H. Winkel: Geschlechtercodes und religiöse Praxis

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Titel
Geschlechtercodes und religiöse Praxis. Arabische Christinnen zwischen patriarchaler Leitkultur und Selbst-Autorisierung


Autor(en)
Winkel, Heidemarie
Reihe
Religion in der Gesellschaft 25
Erschienen
Würzburg 2009: Ergon Verlag
Anzahl Seiten
292 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Cordula Weissköppel

In dieser Studie steht die Aneignung des «Weltgebetstags der Frauen» durch Christinnen im arabischen Raum im Zentrum. Der Titel «Geschlechtercodes und religiöse Praxis» bezieht sich somit auf diese ökumenische Institution als einem Handlungskontext, der daraufhin untersucht wird, inwieweit er Frauen aus christlichen Kirchen in arabischen Ländern neue Handlungsspielräume eröffnet. Denn arabische Christinnen, so die zentrale These, unterliegen einer mehrfachen Marginalisierung, da sie in den muslimisch dominierten Gesellschaften eine religiöse Minderheit darstellen und innerkirchlich einer patriarchalen Statushierarchie unterliegen – diese patriarchale Marginalisierung teilen sie mit muslimischen Frauen, da sie ebenfalls keinen Zugang zu sakralen Ämtern haben.

Winkel bemüht sich mit einer anspruchsvollen theoretischen Rahmung darum, Klischees über die «Unterdrückung der Frauen» im arabischen Raum zu überwinden, indem auf die Notwendigkeit der professionellen Reflexion eurozentrischer Perspektiven über den «Orient» in den westlich dominierten Sozialwissenschaften verwiesen und an postkoloniale Theorien angeknüpft wird (13).

Die Autorin skizziert die historischen Prozesse des Wandels in Gesellschaften des Nahen Ostens seit des 19. Jahrhunderts (70f) und dekonstruiert damit Stereotype über ihre unveränderlichen «Traditionen». Sie verfolgt einen intersektionellen Ansatz der Geschlechterforschung, indem sie Strukturdeterminanten wie Politik und Religion einbezieht, in die die spezifischen Geschlechtercodes, somit auch die Entwicklung von Frauenbewegungen im arabischen Raum (Kap. 3.2) eingebettet sind. Funktionale Differenzierung als zentrale Charakteristika von Modernisierung war auch hier bestimmend, allerdings unter Beibehaltung einer starken Segmentierung entlang ethnischer und religiöser Zugehörigkeiten. Familien- und Religionszugehörigkeit seien bis heute die Platzanweiser für Subjekte in arabischen Gesellschaften, was sich an der Aufrechterhaltung zentraler Werte zeige, die Winkel in Orientierung an der rezipierten Literatur als «Gemeinsinn» (arab. asabiyya) und als «related connectivity» benennt, die innerhalb wie ausserhalb der Religionen wirksam seien.

Erfreulicherweise verfolgt sie damit die Perspektive von «multiple modernities» nach Eisenstadt, indem sie aufzeigt, dass Modernisierungsprozesse in verschiedenen Gangarten verlaufen und dabei spezifische Konfigurationen zwischen modernen und traditionellen Elementen zu Tage treten. Dennoch tappt sie in die Falle, Stereotype über «arabische» Gesellschaften fortzuschreiben, was ihren systemtheoretischen Ambitionen geschuldet ist, gesellschaftsübergreifende Aussagen machen zu wollen. Darin besteht der grösste Widerspruch der Arbeit, dass permanent auf drei nationale Kontexte – Libanon, Palästina und Ägypten – referiert wird, die zum «arabischen Raum» addiert und letztlich nur Aussagen über diesen getroffen werden sollen. Das Handeln von Christinnen in den je lokalen Institutionen zum Weltgebetstag der Frauen, eben in Ägypten, Libanon und Palästina, wird lediglich zur empirischen Mikroebene dieses Raumes erklärt. Eine postkoloniale Perspektive wäre mehr daran interessiert, gerade die lokalen Differenzierungen von peripheren AkteurInnen aufzuzeigen (z.B. die Arbeiten von Lila Abu-Lughod zu Ägypten) statt erneut pauschale Einordnungen zu präsentieren. Winkel erwähnt zwar die Heterogenität der verschiedenen christlichen Konfessionen im Nahen und Mittleren Osten in ihren historischen Verwicklungen und Distinktionen, was es aber umso prekärer macht, dass sie weiterhin von arabischen Christinnen spricht. Die koptisch-orthodoxe Kirche Ägyptens oder die Maroniten im Libanon verstehen sich «dezidiert nicht als arabisch» (49; s.a. 52–53); ihnen geht es gerade um ethnische Distinktionen gegenüber den Prozessen der arabischen Besiedelung und Islamisierung. Zumindest hätte dieser Hinweis bereits in die Einleitung gehört, zumal Winkel die Zuordnung «zur arabischen Ethnie, das heisst auf der Basis eines kollektiv geteilten Identitätsmerkmals» (23) kaum durch eine intensive Diskussion von Ethnizitäts-Theorien einführt.

Methodologisch wird einem qualitativen Design gefolgt, indem narrative Interviews mit insgesamt 47 Frauen zur Grundlage wurden für eine sukzessive Fallanalyse orientiert an der hermeneutischen Wissenssoziologie. Als Ergebnis werden vier Fallverdichtungen dargestellt (Kap. 4), an denen typische Handlungsoptionen der befragten Christinnen skizziert werden: Alle bewegen sich im Spannungsfeld von Angepasstheit an die patriarchalen Leitkulturen der lokalen Kirchenstrukturen und dem übergreifenden Gemeinsinn einer aktiven Gemeindearbeit, die beide Geschlechter einschliesst. Durch das Mitwirken am Weltgebetstag können aber neue Handlungsspielräume von Frauen besetzt werden, die auf Subjekt-Ebene zur verstärkten Reflexion des asymmetrischen Geschlechterverhältnis in den lokalen Kirchenstrukturen führe, wohl auch zur Forderung nach mehr Rechten oder professionellen Rollen von Frauen in den kirchlichen Organisationen. Winkel betont als ein Ergebnis, wie hoch die performative Präsenz von Frauen in von Männern dominierten Sphären zu bewerten ist; allerdings wurden Männer gar nicht befragt und geraten zu Statisten der patriarchalen Leitkultur. Somit bleibt die Studie einer klassischen Frauenforschung verhaftet, die Frauen in einem von Männern dominierten Kontext zu Wort kommen lässt, die aber kaum beleuchtet, was an interaktiven Aushandlungen etwa zwischen Priestern und aktiven Gemeindefrauen passiert, obwohl Winkel auf den Performanz-Ansatz (232, 239) in Erweiterung zum Praxis-Begriff setzt.

Angesichts der schlanken Empirie und dem zügig formulierten Fazit (Kap. 5) stellen sich die hinführenden Kapitel 2 und 3 etwas überbordend dar. Insgesamt ist hier aber die Stärke des Buches zu verorten: in der theoretisch elaborierten Einordnung der Situation von muslimischen wie christlichen Frauen in Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens sowie in der historischen Rekonstruktion der Etablierung des «Weltgebetstag der Frauen», der als Ausdruck religiöser Globalisierung gewertet werden muss, lange bevor man diesen Term in aller Munde führte. Die Ergebnisse von Winkels Forschung bestätigen, dass diese transkulturelle Aktionsform einen doppelten Emanzipationsraum bietet, indem einerseits auf die spezifische Situation von Frauen in einer Region der Welt aufmerksam gemacht wird und andererseits durch die lokalen Organisationskomitees Christinnen in religiösen Institutionen sichtbarer werden.

Zitierweise:
Cordula Weissköppel: Rezension zu: Heidemarie Winkel, Geschlechtercodes und religiöse Praxis. Arabische Christinnen zwischen patriarchaler Leitkultur und Selbst-Autorisierung, Würzburg, Ergon, 2009. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 105, 2011, S. 595-596.

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